Berlin nach 1900
Das Werner von Siemens mit seinen These ,,der Notwendigkeit eines neuen innerstädtischen Massenverkehrsmittels auf der Basis des Elektromotors zur Förderung der Mobilität der Gesellschaft" richtig lag, beweisen im nachhinein die Zahlen: seit 1902 wurden mit der U-Bahn allein mehr als 18 Milliarden Menschen befördert.
Doch so einfach, wie es die Leistungsbilanz heute zeigt, verlief die Entwicklung keinesfalls. Administrative Hindernisse mußten
aus dem Weg geräumt werden, Investitionen für ein öffentliches Verkehrsnetz wurden privatwirtschaftlich finanziert. Um so erstaunlicher war es, daß bereits 1882 die erste Straßenbahnlinie in Lichterfelde offiziell dem Verkehr übergeben werden konnte. Ein Jahr später stellte Siemens den ersten schienenunabhängigen Omnibus vor. Das große Ziel jedoch, die einzelnen Stadtteile Berlins durch ein Hochbahnnetz enger miteinander zu verbinden, scheiterte am Widerstand des Magistrats. Aus städtebaulichen ästhetischen Gründen verlangte man die unterirdische Streckenführung. So vergingen über 20 Jahre, bis endlich 1902 die erste U-Bahn vom Stralauer Tor zum Potsdamer Platz freie Fahrt bekam. Den Wettlauf um die erste U-Bahn hatte man verloren: seit 1891 fuhren in London die ersten U-Bahn-Züge mit elektrischer Ausrüstung von Siemens.
Der erfolgreiche Anfang hatte Mut gemacht, so daß einem zügigen Ausbau des Streckennetzes nichts mehr im Wege stand. 1929 war ein Streckennetz von 75 km Länge vorhanden; man plante die Erweiterung auf 200 km. Doch der Krieg machte einen Strich durch diese Rechnung.
Heute besteht ein Streckennetz von über 120 km. Eine einzige zentrale Leitwarte versorgt 40 Gleichrichterwerke, die ferngesteuert sind, mit elektrischer Energie. Über Linienstellwerke können Zugbewegungen auf Fahrschautafeln überwacht und gesteuert werden. Die Bedienung von Weichen, Fahrstraßen und Signalen erfolgt in einem Einzugsbe- reich von bis zu 10 km. Dabei ist die Sicherheit der Fahrgäste höchstes Gebot. Eine sich selbst steuernde und kontrollierende Technik sichert vor menschlichen Fehlern und gewährleistet einen störungsfreien Ablauf. Im September 1986 wurde das erste vollelektronische Stellwerk der Welt für Nahverkehrsbahnen auf dem U-Bahnhof Uhlandstraße in Betrieb genommen. Diese Technik wird richtungsweisend für U- und S-Bahn sein.
Großer Rummel in Halensee
Zur Belustigung für den vornehmen Westen von Berlin wird in Halensee, das zum Bezirk Wilmersdorf gehört, ein großer Vergnügungspark, der Lunapark eingerichtet. Die Berliner finden hier Attraktionen aller Art.
Der Dichter Erich Kästner verfaßte folgenden Epos:
Na, wer hat noch nicht ?
Na, wer will noch mal ?
Hier dreht sich der Blödsinn im Kreise!
Hier sehen sie beispielsweise den türkisch
Sprechenden Riesenwal!
Und das alles für halbe Preise!
Na, wer hat noch nicht ?
Na, wer will noch mal ?
Hier staunen Sie bis sie platzen!
Hier sehen sie boxende Katzen!
Hier sehen sie die Dame ohne Gesicht,
und werden sich wundern,
womit sie spricht!
Feigst nicht ihr dämlichen Fratzen! |
Der Hauptmann von Köpenick
16.Oktober 1906 Rathaus von Köpenick verhaftet der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt, der sich als Hauptmann des 1. Garderegiments ausgibt, unter anderem den Bürgermeister und den Stadtobersekretär. Die Aktion des falschen Hauptmanns von Köpenick wird als Satire auf die Autoritätsgläubigkeit der Untertanen angesehen. Voigt, der schon mehrfach im Gefängnis gesessen hat und Deutschland jetzt verlassen will, erhält auf legalem Wege keinen Paß. So versucht der arbeitslose Schuster, die Behörden zu überlisten. Mit einer beim Trödler erworbenen Hauptmannsuniform bekleidet, gelingt es ihm, auf seinem Weg zehn Mann des I. preußischen Garderegiments zu stoppen und ihnen eine Fahrt nach Köpenick zu befehlen. Dort angekommen, begibt er sich nach der Verhaftung etlicher Stadtoberer auf die Suche nach dem Paßamt. Ein solches existiert im Köpenicker Rathaus jedoch nicht. Nachdem er das erfahren hat, beschlagnahmt der selbsternannte »Hauptmann« die Stadtkasse, die 4000 Mark und 70 Pfennige enthält. Er quittiert den Betrag vorschriftsmäßig, jedoch mit falschem Namen und Titel.
Unter der Bewachung seiner zehn Gardesoldaten werden sodann die Verhafteten auf die Neue Wache Unter den Linden nach Berlin geschickt. Der falsche Hauptmann ist plötzlich verschwunden. Wenige Tage später wird er verhaftet und, nachdem er ein umfassendes Geständnis abgelegt hat, zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die allerdings später auf zwei Jahre gemindert werden. Sein Fall, der den Dichter Carl Zuckmayer zu der Komödie »Der Hauptmann von Köpenick« anregt (1931), gerät schnell in die Schlagzeilen und löst große Heiterkeit aus. Eine Zeitungen schreibt zum Beispiel: »Wer die Uniform trägt, der siegt, nicht weil er besser oder klüger oder weitsichtiger wäre, sondern weil er uniformiert ist.
Die sehr ernste Seite des Falles ist die Anbetung des heiligen Rockes. Der bunte Rock gilt als so heilig, daß der Träger dieses Rockes schon fast selbst als ein Heiliger gilt, der weit über Urteil und Vorurteil erhaben ist.
Die konservativen Stimmen, die davor warnen, den preußischen Untertanengeist der Lächerlichkeit preiszugeben, finden kaum Gehör. Erst nach dem Auftritt als Hauptmann findet Voigt Beachtung.
40 Jahre Deutsches Kaiserreich
18. Januar 1911. Anläßlich des 40 jährigen Jubiläums der Kaiserproklamation von Versailles 1871 finden in Berlin Jubelfeiern statt. Der 90 jährige Prinzregent von Bayern, Luitpold, letzter noch lebender Teilnehmer der Proklamation, gratuliert dem Deutschen Kaiser Wilhelm II.
Zum Jubiläum kritisieren zahlreiche Zeitungen den Zustand des Reiches. Die »Berliner Neuesten Nachrichten« schreiben: »Wir verfallen einer Astetisierenden Kultur. Der Jagd nach Besitz und Genuß erliegt schon der ursprüngliche natürliche Lebensdrang. Das sind Krankheitssymptome.« Zwar häufig kritisiert, doch unangefochten herrscht Kaiser Wilhelm II. der Enkel des Reichsgründers. Sein Regierungsstil wird als »persönliches Regiment« bezeichnet. Wilhelm, der keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen ist, sieht sich in der Nachfolge Friedrich des Großen. Seine Äußerungen und seine eigenmächtige Politik führen häufig zu Verlegenheiten und diplomatischen Krisen. Beklagt wird auch der Lebensstil des Herrschers: »Das Schlimme ist, daß der Kaiser sich immer mehr entwöhnt, wirklich etwas zu arbeiten. Er steht spät auf, ist nur schwer und sehr ungern etwa zwei Stunden am Vormittag für die Vorträge zu haben. Häufig benutzt er Vorträge, um seinen Räten selber Vortrag zu halten. (...) Infolge des öfters sich bis drei Stunden hinziehenden Nachmittagsschlafes bleibt der Kaiser regelmäßig bis 12Uhr oder 1 Uhr auf und steht dabei am liebsten im Kreis von Menschen, die ihm andächtig zuhören und denen er unentwegt erzählt.«
Die Kriegsjahre in Berlin
Als der Erste Weltkrieg am 1. August1914 ausbrach, herrschte in Berlins Straßen eine ähnliche Begeisterung wie 1870 - und die gleiche, diesmal trügerische Hoffnung auf einen schnellen Sieg. Schon 1911 hatte der sozialdemokratische Parteiführer August Bebel im Berliner Reichstag eindringlich vor der Katastrophe eines Weltkrieges gewarnt, hinter welcher ,,der große Kladderadatsch' stehen werde. Die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge. ...Sie stehen heute auf dem Punkte, Ihrer eigenen Staats- und Gesellschaftsordnung das Totenglöcklein zu läuten. Für die Millionen-Bevölkerung Berlins und seiner Vororte folgte auf den Jubel bald eine Zeit der Entbehrungen. Die Festsetzung von Höchstpreisen und Rationierungen zog Schleichhandel, Hamsterfahrten und Schwarzmarktpreise nach sich. Der Einführung einer Groß-Berliner Brotkarte (siehe Bild) im Februar 1915 folgten bald andere Lebensmittelkarten: die Zucker-, Butter-, Eier-, Fleisch-, Kartoffel-, Petroleum-, Seifen-, Kohlenkarte. Das Wort ,,Kunst" bekam einen neuen Sinn: Kunsthonig und Kunstmarmelade, künstliche Brühwürfel und Limonaden, Kaffee-Ersatz und Magermilch wurden zu geläufigen Begriffen. Für das tägliche Brot streckte man Weizen- und Roggenmehl mit Kartoffelmehl oder auch frischen Kartoffeln. Die Herstellung von Kuchen wurde eingeschränkt.
Die britische Seeblockade, gegen die Deutschlands Flotte machtlos war, begrenzte die Einfuhren. Die reglementierte Versorgung schwankte auch mit dem Ausfall der Ernten und dem Geschick der Bauern, die Ablieferungspflicht zu umgehen. Das Gewicht der Schrippe war schon 1915 von 75 auf 50 Gramm herabgesetzt worden. Das Brotgewicht lag je nach Zuteilung zwischen 2000 und 1600 Gramm, der Wochenration für eine Person. Seit 1916 waren auch Fleischwaren rationiert. Pro Person und Woche sank der Satz schnell auf 250 Gramm. Rund ein Fünftel des noch im Herbst 1915 statistisch festgestellten Verbrauchs. Selbst diese geringen Mengen konnten nicht immer geliefert werden.
Im Frühjahr 1916 organisierte die Stadt schließlich die Volksspeisung mit zehn Hauptküchen und 77 Ausgabestellen in allen Stadtteilen. Im schlimmen ,,Kohlrübenwinter" 1916/17, als im Februar 1917 ,,die Kartoffelnot aufs höchste gestiegen war", erreichte die Zahl der Essensteilnehmer 152000. Sie verminderte sich zwar danach, aber ,,der heiße, trockene Frühsommer 1917, in dem Berlin weder Kartoffeln noch Gemüse kannte", ließ sie sogar auf 171 000 anschwellen, wie der damalige Stadtarchivar Ernst Kaeber in seinem Buch ,,Berlin im Weltkriege" schrieb.
Je länger der Krieg dauerte, desto umfassender wurde die staatliche Bewirtschaftung der Versorgung. Sie erfaßte Bekleidung und Schuhe ebenso wie Seife und Waschmittel, Heizung und Beleuchtung.
Während die militärische Führung ihr Hauptquartier fernab von Berlin hatte, wurde die Stadt zum Zentrum der Rüstungsplanung und Rüstungsproduktion. Walther Rathenau, Nachfolger seines Vaters in der Leitung der AEG, glaubte nicht an den schnellen Sieg und erkannte als erster die Gefahr des Rohstoffmangels. 1914-15 baute er die Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium auf. Doch obwohl die Rüstungsproduktion auf Hochtouren lief, die Löhne stiegen und die Gewerkschaften sich mit den Arbeitgebern arrangierten, hielt der 1914 vom Kaiser mit den Worten:,, Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" verkündete innenpolitische ,,Burgfrieden" nur begrenzte Zeit. Auf der politischen Rechten wurden immer ungehemmter weitreichende ,,Kriegsziele" aufgestellt, die heftige Debatten auslösten. Der linke Flügel der SPD, die 1914 im Reichstag geschlossen für die ersten Kriegskredite gestimmte hatte, verweigerte schon bald die weitere Unterstützung dieses Krieges und bildete 1916 die ,,Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD). In ihr gruppierte sich im ,,Spartakusbund" ein revolutionärer Kern. Doch weniger durch politische Unterwanderung von ,,links" als durch die schlechte Versorgungslage und die schwindende Hoffnung auf einen schnellen Sieg entstand zunehmende Unruhe in der Bevölkerung. Im April1917 legten im ganzen Reich etwa 300000 Arbeiter in 300 Betrieben die Arbeit nieder; Ende Januar 1918 eine halbe Million Metallarbeiter.
Nicht zuletzt die russische Revolution vom März 1917 hatte die deutsche Innenpolitik wieder in Bewegung gebracht. Der Reichstag bildete einen Verfassungsausschuß, und Wilhelm II. versprach eine Reform des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts. Nach dem Kriegseintritt der USA, der einen deutschen Sieg vollends zur Illusion werden ließ, warnte der Zentrumsabgeordnete Erzberger, nie dürfe ,,unser Volk dem Reichstag das grausame Wort entgegenschleudern: Zu spät!". Zentrum, SPD, Links- und teilweise auch Nationalliberale rückten enger zusammen. Die ,,Friedensresolution" vom 19. Juli1917 forderte einen Verständigungsfrieden ohne ,,erzwungene Gebietsabtretungen, politische, wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen". Trotzdem dauerte es noch
über ein Jahr, bis die Militärs den Krieg verloren gaben und, in der Hoffnung auf einen günstigeren Frieden, den Übergang zur parlamentarischen Demokratie befürworteten. Doch dann weitete sich Anfang November1918 eine Meuterei von Matrosen der Kriegsflotte, die nicht zur sinnlosen ,,letzten Schlacht" auslaufen wollten, zur revolutionären Volksbewegung aus.
Novemberrevolution
Am9. November1918 hatte die Revolution Berlin erreicht. Aber Kaiser Wilhelm II., fern von Berlin im Hauptquartier, wollte noch immer nicht abdanken. So verkündete Reichskanzler Prinz Max von Baden schließlich selbst: ,,Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen", und übertrug dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert das Reichskanzleramt.
In Berlin ging es zu wie in vielen Städten zwischen Kiel und München: Bewaffnete Arbeiter und einfache Soldaten mit roten Armbinden prägten das Straßenbild. Offiziere wurden entwaffnet. Politiker und Agitatoren hielten Reden. Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet. Tausende standen vor dem Reichstag und erwarteten vom Parlament eine Entscheidung. Im Speisesaal drinnen saß die SPD-Führung beim bescheidenen Mittagessen, da traf die Meldung ein, daß Karl Liebknecht, mit Rosa Luxemburg Führer des revolutionären ,,Spartakusbundes", vom Schloßbalkon eine Rede halten wolle. Würde Liebknecht die ,,Sowjetrepublik" ausrufen? Philipp Scheidemann wollte dem etwas entgegensetzen. Er eilte auf einen der Balkons des Reichstages und hielt eine improvisierte Rede: ,,Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt", schloß er. ,,Das Alte ist nicht mehr ... Ebert ist zum Reichskanzler ernannt ... Die Hohenzollern haben abgedankt... Es lebe die deutsche Republik!" - Fast gleichzeitig verkündete Liebknecht die ,,sozialistische Republik".
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